18. November 2013
„Ich kann nicht so einfach wie Andere die Beweise für eine gezielte Erschaffung und allseitiges Wohlwollen erkennen, auch wenn ich es mir wünschen sollte. Es erscheint mir zu viel Elend in der Welt. Ich kann mich nicht davon überzeugen, dass ein wohlwollender und allmächtiger Gott die Ichneumonidae mit der Absicht erschaffen haben sollte, dass sie sich vom Inneren von Raupen ernähren, …“
So schrieb Darwin 1860 in einem Brief an den amerikanischen Naturalisten Asa Gray .
Ichneumonidae – Darwin meint die gemütliche und auch sehr nützliche Familie der Schlupfwespen, deren es allein in Deutschland 10000fach geben soll.

Hedwig Storch (CC-BY-SA-3.0 ), via Wikimedia Commons
Man ahnt, dass der lange Legestachel eine besondere Funktion hat – nämlich die, in andere Lebewesen eigene Eier hinein zu legen – sie so für ihre sich aus den Eiern entwickelnden Larven als Wirtstier zu parasitieren. Die Natur ist auch hier sehr effektiv: Die Schlupfwespe erspart sich die eigene anstrengende, energieverzehrende Brutpflege.

Hartmut-Haefele, Elias-Haefele (CC-BY-SA-3.0), via Wikimedia Commons
Bei den Schlupfwespen haben sich sehr mannigfaltige Methoden entwickelt, ein Wirtstier zu finden und auszubeuten.
Einige Mitglieder dieser liebenswürdigen Familie, die sich auch nicht scheuen, die Nebenlarven – ihre Geschwister also – zu fressen, zu kanibalisieren, haben die raffinierte Eigenschaft entwickelt, den Stoffwechsel des Wirtstieres so zu „impfen“, dass dessen Immunsystem ausgeschaltet und es somit dem langsamen Tode ausgeliefert ist.
Andere – mehr so die Handwerker in dieser Familie, die Holzschlupfwespen (Rhyssa persuasoria) – erspüren über ihren Geruchssinn Larven von Holzwespen oder Bockkäfern tief in der Rinde von Bäumen und stochern solange in immer schneller werdenden, drehenden Bewegungen ( bis zu 3 cm tief ), bis sie die Larven finden. Haben sie ihr Opfer erreicht, betäuben sie das Tier mit einer Giftinjektion und legen durch ihren Legebohrer ein Ei in die Larve. Dieser Vorgang der Eiablage kann bis zu einer Stunde dauern. Die später schlüpfende Holz-Schlupfwespen-Larve ernährt sich während ihrer Entwicklungsphase parasitisch von ihrem Wirt.
In Australien gibt es eine – auch für Menschen – sehr gefährliche giftige Rotrückenspinne -, deren Biss tödlich sein kann.
Der Stuttgarter Entomologe Lars Krogman hat nun in Australien eine gewisse Prominenz mit seiner Entdeckung erreicht: Er untersuchte Captain Cook´s Wespe (Agenioideus nigricornis ), die – obwohl kaum mehr als einen Zentimeter groß – ein entschlossener Gegner der Rotrückenspinne ist. Die Wespe attackiert die Spinne, lähmt sie mit einem Stich und legt dann ein Ei auf der Spinne ab. Nachdem die Larve aus dem Ei geschlüpft ist, frisst sie sich regelrecht durch ihr noch lebendes Opfer. Dabei ist sie wählerisch, indem sie zunächst nur die Teile auffrisst, die nicht tödlich sind, damit die Beute so lange wie möglich frisch bleibt.
Wir zucken bei solchen Entdeckungen die Achsel – das ist halt die Grausamkeit der Natur: Der Überlebenszweck findet alle Mittel zum Überleben – oder eben nicht. Pech für die Spezies. Game over.
Darwin hat unseren Platz als Menschen innerhalb der Natur neu eingeordnet: Wir sind Teil der Evolution in der Natur, haben aber das Potential, Zweck und Mittel mit Verstand abzuwägen.
Das passiert seit tausenden von Jahren durch Rituale, Übereinkünfte, Regelwerke mal gut, mal schlecht – menschlich eben -, die aber Menschen zu ihrem Vorteil, wenn sie die Macht dazu haben, außer Kraft setzen können – das ist ein stetes Ringen um den geringsten zivilisatorischen Fortschritt.
So weit, dass wir andere Wesen als Parasiten bei lebendigem Leibe Stück für Stück langsam zu Tode befördern, sind wir doch nicht.
Bei uns heißt das Sklaverei, Kolonisierung, Krieg gegen andere Völker um deren Bodenschätze und deren partielle Vernichtung durch Atomwaffen – also das grobe Legebohrer-Inventar vor und zu Zeiten der beiden Weltkriege, um Menschen und ihre Staaten zu lähmen und auszuweiden.
Heute ist Demokratie mit ihrem sorgsam austarierten und kontrolliertem Regelwerk der Machtbalance von gesetzgebender, ausführender und urteilender Macht – noch dazu in Wahlen kontrolliert durch uns, das wählende Volk, dem Souverän.
Da gibt es mühsam errungene Sozial- und Arbeitsstandards, Regeln für sichere und erschwingliche Energie und Medizin, Regeln für Verbraucher- und Arbeitsschutz etc. – komplizierte und vielfach – global – gesicherte Regelwerke.
In der Demokratie wird dem Menschen sein Recht auf Leben, sein Recht auf Würde, sein Recht auf Unversehrtheit, die auf unverbrüchlichen Gesetzestafeln gemeisselt sind, in Sonntagsreden – religiösen und politischen – im Jahr 52mal garantiert. Dazu noch gratis allen Menschen auf dem ganzen Erdenrund.
Es ist doch nicht vorstellbar, dass WIR, die wir den Auftrag Gottes haben, uns die Erde untertan zu machen, auf einmal diejenigen sind, die als Wirtstiere parasitiert werden – und das noch von unseresgleichen.
Nicht vorstellbar?
Aber die Natur gibt uns doch Beispiele.
Eine Überpopulation von Heuschrecken – also von Fressfeinden nicht kontrollierte – frisst ganze Landesteile kahl – und hinterlässt für andere Wesen Hungersnot und Elend.
Eine wie auch immer durch parasitär verursachte Energieemissionen induzierte Klimaerwärmung erzeugt viel Wasserdampf und damit verheerende Zerstörungen durch Regenfall-Überschwemmungen – vielleicht auch orkanartige Stürme mit all ihren fürchterlichen Folgen.
Bleibt die Grundfrage in unserer von Menschen definierten Welt: Wer ist Parasit, wer ist Wirtstier?
Vor kurzem begannen in Brüssel die Verhandlungen über das transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP), das alle Handelshindernisse zwischen der EU und den USA beseitigen soll. Heerscharen von Lobbyisten fielen in Brüssel ein und versuchten ihre Legestachel am riesigen Körper der EU – aber tunlichst am EU-Parlament vorbei – zu platzieren. Multis – besonders Agrarmultis – melden Ansprüche auf ungehinderten Anbau von genmanipuliertem Saatgut und ungehinderten Einsatz von „Pflanzenschutzmitteln“ an. Andernfalls – so ein Recht soll implementiert werden – sollen die EU-Staaten, die sich weigern, das zuzulassen, auf Gewinnverlust vor einem Schiedsgericht verklagt werden können, das sich zusammensetzt mit Rechtsanwälten, die mal für den, mal für die andere Seite tätig sein könnten – und das unkontrolliert von irgendwem. Arbeits- und Verbraucherstandards stehen neben vielen anderen auch zur Disposition.
Na, wenn das nicht die ideale Position für den konsumierenden Steuerbürger als ideales Wirtstier ist.

David Shrigley für Süddeutsche Zeitung Magazin, 15.11.2013
So funktioniert wohl zivilisatorischer Fortschritt unter dem allgültigen Diktat der Natur derjenigen, die sich dem Fetisch Geld mit all ihrer Macht verschrieben haben.
Wie viele Gründe hätte Darwin heute mit Gott zu hadern.
(Mal versuchen in die geleakten Dokumente von wikileaks über den aktuellen Entwurf des TTIP heranzukommen. Wenn der Link funktioniert und nicht – von wem auch immer – ausgebremst wird – chapeau!)