17. Januar 2014
In den alten Zeiten, in denen wir Jungen wie der Geier hinter dem 35. Karl-May-Band „Unter Geiern“ her geierten, um ihn dann endlich zu lesen – bei Leseverbot („Junge, du verdirbst dir die Augen vom vielen Lesen!“) unter der Bettdecke, beleuchtet mit der Taschenlampe -, wurde uns von Geiern ein sehr eindeutiges Bild vermittelt: Da lauerten diese feigen, hässlichen, blutrünstigen Geschöpfe am Rande des Llano Estacado und warteten geduldig (das immerhin!) auf den verdurstenden Reiter, der sein getreues, aber ebenso verdurstendes Pferd am Zügel, unter der unbarmherzigen Sonne ermattet seinem unausweichlichem Tode abseits aller wegweisenden Pfähle zu trottete.
Trostlose, grausame Natur – von Geiern letzten Endes wieder ins Reine gebracht.

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Und dann noch diese Karl-May-Menschen, die sich wie Geier verhielten: hinterhältig, feige, unendlich gierig.
Dabei – das weiß man heute – sind Geier gar nicht gierig. Sie sind eher bescheidene Esser. Nur etwa 5 % ihrer Körpermasse wird durchschnittlich pro Tag an Fleisch verzehrt.
(Da lohnt sich zum Vergleich mal ein Blick in den neuen Fleischatlas, der genau über den Fleischverzehr von uns Menschen Auskunft gibt.)
Gänsegeier und auch der Mönchsgeier können wahre Hungerkünstler sein und von ihren Fettdepots unter der Haut und in der Bauchhöhle bis zu 5 Wochen auskommen.
In der Schule – Hauptfach Religion – ging es weiter: „Wo das Aas (ist), dort werden sich die Adler / Geier versammeln.“(Mt 24,28 / Lk 17,37).
Adler, Geier – was denn nun? Das waren so philologische Spitzfindigkeiten zwischen Einheitsübersetzung der Bibel und der Elberfelder Bibel.
Im Fach Geschichte ging es weiter: War es nun ein Adler oder war es ein Geier, der dem armen an den Felsen geschmiedeten Prometheus im Kaukasus jeden Tag ein Stück Leber wegfraß?
Und waren es nicht 6 Geier, die Romulus und Remus den Ort wiesen, an dem sie Rom bauen sollten?
In Deutsch lasen wir mit verteilten Rollen im König Richard II, 2. Akt, 1. Szene, laut vor:
„Die Eitelkeit, der nimmersatte Geier, // Fällt nach verzehrtem Vorrat selbst sich an.“
Ein Geier, der sich selbst auffrisst? Hol´s der Geier, ein gutes Bild hatten wir von ihm nicht.
Ägypten kam in der Schule damals allenfalls am Rande vor, sonst hätten wir von den Mythen der Ägypter lernen und unser Bild etwas korrigieren können. War doch der Geier ein Tier, dass die Nechbet, die Himmelsgöttin und die oberste Göttin Oberägyptens symbolisierte. Könige von Oberägypten trugen die Geierhaube oder den Geierkopf auf ihrer Krone.

Nechbet-Darstellung im Hatschepsut-Tempel in Luxor
Und von Indien hatten wir ein geographisches Bild, das wir (manchmal) auf der Karte identifizieren konnten. Heute können wir nachschlagen, dass Bhasak der Name eines respektierten Schutzgeiers war, der überwachte und schützte und gleichzeitig darauf hinwies, dass der Ort, an dem er zu sehen war, viele Herden hatte, also sehr reich war. Die Leute protzten mit den Geiern – heute protzen andere Geier anders.
Dass indianische Völker über ein sehr reiches kollektives Gedächtnis von Mythen verfügen, war ja nun auch nicht gerade „Stoff“ – wäre aber eine schöne Geschichte gewesen, um die Hässlichkeit des Geiers zu erklären:
Einmal – so geht der indianische Mythos – war die Sonne der Erde so nahe, dass alles Leben auf der Erde in Gefahr geriet zu verbrennen. Tiere waren die ersten, die entschlossen waren, die Sonne wieder an ihren angestammten Platz zu bringen. Der Fuchs nahm als erster die Sonne in sein Maul, versuchte zum Himmel zu rennen und die Sonne dort wieder anzubringen. Ihm wurde die Sonne im Maul zu heiß – er musste aufgeben. Seit dem ist die Innenseite des Fuchsrachens schwarz. Das Opossum wickelte dann die Sonne um seinen Schwanz – zu heiß – die Schwanzhaare verbrannten. Bis heute ist der Schwanz des Opossums haarlos. Der Geier in seiner ganzen Federpracht auf Kopf und am Hals nahm dann als dritter die Sonne in seinen Schnabel, drückte sie an den Hals, breitete seine fast drei Meter breiten Flügel aus und flog mit voller Kraft in den Himmel – und schaffte es: Bis heute ist die Sonne wieder an ihrem angestammten Platz. Allerdings muss der Geier seitdem mit kahlem Hals durch die Lüfte schweben.
Was ihm letztlich auch zum Vorteil geriet: Er kann seinen kahlen Hals so tief in die Aas-Eingeweide stecken, dass ihm die umständliche Reinigung eines dichten Federkleides um Hals und Kopf herum erspart bleibt.
Und die Verdauung eines Geier schließlich! Wenn unsereins so langsam vom trockenen Riesling Abstand nehmen muss, fängt der Bartgeier erst an. Der ernährt sich ausschließlich von Aas und zu 80 % von Knochen, die sein besonders saurer Magensaft vollständig hinmacht. Hals und Magen sind so dehnbar, dass er Knochen bis zu 30 cm Länge verschlingen kann. Clever ist er auch noch: Große Knochen lässt er aus etwa 150 m Höhe auf felsigen Untergrund herunter fallen, auf dem sie in handliche Stücke zersplittern.
Und nun herrscht bei uns in Obersülzen zu recht ornithologische Erregung, ist doch – von Obrigkeim her kommend – ein Gänsegeier gesichtet worden.

Matthias Kabel, wikipedia, CCA 3.0-License (Creative Commons Attrribution/Share Alike 3.0)
Wird es dem nicht zu einsam? Die Geier sind doch gesellige Burschen und brüten meist in Kolonien mit über 100 Brutpaaren. Ist er auf der Durchreise? In europäischen Gefilden hatte ein Geier bisher nicht allzu Gutes zu erwarten. Seit dem 19. Jahrhundert wird er verfolgt und ausgerottet: Ein Geier verbreitet Krankheiten. Mit Strychnin wurde ihm zu Leibe gerückt. Da war noch nicht bekannt, dass Geier mit ihrem Magensaft sämtliche Bakterien und Viren vernichten.
Heute ist er geschützt und wird z.B. in den Cevennen wieder angesiedelt.
Wenn wir beobachten könnten, wie unser Gänsegeier als ausgezeichneter Segler in hohen Lüften schwebt, dann mit bestimmten Flügelbewegungen signalisiert, dass er aus höchsten Höhen Aas gesehen hat – und wartet, bis er sicher ist, dass ein anderer Genosse in bis zu 6 km Entfernung seine Signale gesehen hat – und dann erst in den Sinkflug zum Aas geht, dann haben wir auch noch etwas über das gute Sozialverhalten von Geiern erfahren – und vielleicht lockt er so noch andere Gänsegeier an.
Weiß jemand, warum der Gänsegeier „Gänse“geier heißt?
NACHTRAG:
Das Naturschutzbüro-Zollernalb hat über den hiesigen Gänsegeier eine umfassende Berichterstattung mit vielen interessanten Bildern ins Netz gestellt.
Weitere aktuelle Bilder sind auf dieser Website zu sehen.